In Bern geraten der öffentliche Verkehr und der motorisierte Individualverkehr immer wieder aneinander. In dieser Reportage wird die Problematik analysiert und es werden Lösungsansätze präsentiert. Zudem wird ihnen die aktuelle Verkehrssituation in Bern vorgestellt.
„Dieser verdammte ÖV verstopft immer den Eigerplatz.“ ~ anonymer Autofahrer
,,Der MIV verstopft viel eher den ÖV.” ~ Rolf Meyer
Das sind zwei Zitate von verschiedenen Verkehrsteilnehmern – eines aus der Perspektive eines Autofahrers, das andere aus der eines ÖV-Passagiers.
Wir sind Rémy Marthaler und Alex Bähler und kennen diese Problematik aus eigener Erfahrung. Auch wir ärgern uns, sei es im Autoverkehr oder im öffentlichen Verkehr, wenn etwas nicht richtig läuft.
Es schneit. Heftig. Nach einem Test darf ich früher nach Hause. An der Tramhaltestelle warten viele Menschen, während die Anzeigetafeln nur über zahlreiche Ausfälle informieren. Sie hätten genauso gut anzeigen können, welche Linien überhaupt noch fahren. Irgendwie schaffe ich es dennoch nach Hause.
Am nächsten Tag bleibt das ÖV-Netz weitgehend lahmgelegt, während sich der Autoverkehr langsam wieder erholt. Aus dem Auto heraus beobachte ich zahlreiche Menschen, die zu Fuss nach Bern unterwegs sind, mangels Zugverbindungen. Ein ungewohnter Anblick.
Doch welches Verkehrsmittel ist letztlich die bessere Wahl?
Diese Reportage stellt den motorisierten Individualverkehr (MIV) dem öffentlichen Verkehr (ÖV) gegenüber und beleuchtet die daraus resultierenden gegenseitigen Probleme. Zudem werden mögliche Lösungen sowie die Zukunft des Stadtverkehrs in Bern untersucht. Dafür dienen Interviews mit verschiedenen Personen als Grundlage, um unterschiedliche Perspektiven in die Analyse einzubeziehen.
In Bern nutzen MIV und ÖV häufig dieselben Strassen, was oft zu Staus und Verspätungen führt, besonders an Kreuzungspunkten wie dem Eigerplatz und dem Burgernziel wird diese Problematik deutlich. Doch wer blockiert hier wen?
Überlegen Sie sich zuerst, welches Verkehrsmittel Sie häufiger nutzen, den ÖV oder den MIV? Je nach Perspektive werden Sie unterschiedliche Ansichten darüber haben, wer wen blockiert. Aus unserer Perspektive können wir nur sagen, dass auf dem Weg zum Interview mit Bernmobil ein Tram den gesamten Verkehr für mehrere Minuten blockiert hat.
Lassen Sie uns zur Frage zurückkehren, die Realität ist: Niemand ist ganz unschuldig. Alle Verkehrsteilnehmer tragen in gewissem Masse zur Entstehung von Staus bei. In unserem Beispiel konnten wir nicht sehen, was weiter vorne geschah, möglicherweise gab es einen Unfall im MIV, der das Tram selbst blockierte.
Statt nach Schuldigen zu suchen, sollte der Fokus darauf liegen, wie sich das Problem lösen lässt. Für mögliche Lösungen sind vor allem die zuständigen Unternehmen und Behörden verantwortlich. Aus diesem Grund wurde ein Interview mit der Verkehrsplanung von Bern geführt.
An einem Januarnachmittag trafen wir uns beim Gebäude der Verkehrsplanung, das sich in der Berner Innenstadt befindet. Wir hatten ein Interview mit Julian Flückiger, Co-Leiter im Bereich Projekte, vereinbart. Beim Betreten des Gebäudes staunten wir zunächst über das moderne Innere, von aussen wirkt es hingegen wie ein altes Sandsteingebäude. Wir vermuten, dass es unter Denkmalschutz steht und deshalb äusserlich nicht verändert werden darf.
Herr Flückiger begrüsste uns freundlich und führte uns in einen ruhigen Raum, in dem wir das Interview ungestört führen konnten. Er erwies sich als äusserst hilfsbereit und beantwortete alle Fragen ausführlich. Das Gespräch dauerte insgesamt 40 Minuten, länger als geplant. Für künftige Interviews nehmen wir uns daher vor, unsere Fragen gezielter zu stellen. Doch was wurde denn nun bei dem Interview festgestellt?
Zu den bisherigen Erfolgen der Verkehrsplanung zählen unter anderem die Verdopplung des Fahrradverkehrs in den letzten zehn Jahren, von 10 % auf 20 % der Verkehrsteilnehmer. Ausserdem konnten Unfälle, insbesondere schwere, deutlich reduziert werden. Ein weiterer Fortschritt ist die Umwandlung von Quartierstrassen in Begegnungszonen, die das Stadtbild modernisieren und die Verkehrssicherheit erhöhen. Viel wichtiger ist aber die Zukunft.
Eines der Hauptziele der Verkehrsplanung ist die Erweiterung und Verbesserung der Fahrradinfrastruktur. Die Ausweitung des ÖV-Netzes wird als weniger vorrangig betrachtet, da die bestehende Infrastruktur bereits gut ausgebaut ist. Dennoch werden Massnahmen zur Priorisierung des ÖV als sinnvoll erachtet.
“Eine vollständige Verbannung des MIV aus der Stadt ist weder geplant noch sinnvoll”. ~ Julian Flückiger
Notwendige Fahrzeuge des MIV sollen weiterhin auf den Strassen bleiben. Eine Reduktion des MIV wäre zwar wünschenswert, gestaltet sich jedoch als grosse Herausforderung. Besonders in stark verdichteten Gebieten fehlt schlicht der Platz, damit jeder mit dem eigenen Auto unterwegs sein kann, ohne den Verkehr zum Erliegen zu bringen. Deshalb wird verstärkt auf das Fahrrad und den ÖV gesetzt, beide sind platzsparender. Fahrräder eignen sich für kurze Strecken mit geringem Verkehrsaufkommen, während der öffentliche Verkehr für längere Wege und stark frequentierte Routen die bessere Lösung ist.
Einer der Lösungsansätze, die vorgestellt wurden, sind Park-and-Ride-Angebote sowie Ampelsysteme, die den MIV am Stadtrand zurückhalten sollen. Dadurch könnten die Verkehrsachsen in der Stadt entlastet und der Verkehrsfluss verbessert werden. Ein konkretes Beispiel ist die Verkehrsregulierung durch Ampeln in der Länggasse. Wichtiger als eine Verdrängung des MIV aus der Stadt sei jedoch, zunächst die Anwohner selbst verstärkt zum Umstieg auf den ÖV zu bewegen.
Doch wie soll das gelingen? Wie kann die Stadt den ÖV attraktiver machen, um Autofahrer zum Umsteigen zu bewegen?
Im Februar 2025 führten wir dazu ein Interview mit Bernmobil. Zunächst lotste uns Google Maps auf eine falsche Fährte, doch schliesslich fanden wir das Gebäude. Eigentlich hatten wir uns vorgenommen, das Gespräch diesmal kürzer zu halten, doch das funktionierte nicht so ganz.
Interessanterweise vertritt Bernmobil die Ansicht, dass der ÖV gar nicht attraktiver gemacht werden müsse.
„Die Autofahrer müssen es ausprobieren (…) Es muss ein Umdenken stattfinden (…) Das ÖV-Netz in Bern ist Weltklasse.“ ~ Rolf Meyer, Vertreter von Bernmobil.
Dass das ÖV-System in Bern zur Weltklasse gehört, können wir nur bestätigen. Das Netz ist äusserst flächendeckend, sodass fast überall in der Stadt und den umliegenden Quartieren eine nahegelegene ÖV-Verbindung besteht. Zudem sind Verspätungen selten, abgesehen von den Stosszeiten, in denen sie nahezu unvermeidbar sind. Selbst dann wird jedoch versucht, Verzögerungen so gering wie möglich zu halten. Dafür gibt es speziell angepasste Fahrpläne: Busse und Trams verkehren in kürzeren Takten, und die Fahrzeiten zwischen den Haltestellen werden grosszügiger bemessen.
Je nach Linie steht absolute Pünktlichkeit allerdings gar nicht im Vordergrund. Bei Linien wie der Buslinie 10 geht es vielmehr um einen zuverlässigen Takt und die Minimierung der Wartezeiten. Wenn ein Bus alle zehn Minuten fährt, spielt es für die Fahrgäste kaum eine Rolle, ob sie im regulären Bus oder in einem mit zehn Minuten Verspätung sitzen, sie müssen so oder so nicht lange warten.
Auch Bernmobil trägt zur Entlastung der Strassen bei, indem die Kapazität pro Fahrzeug erhöht wird, während sich gleichzeitig die Taktzeiten verlängern. Dadurch sind insgesamt weniger Fahrzeuge unterwegs, was den Verkehrsfluss verbessert. Ein konkretes Beispiel ist die geplante Umstellung der Linie 10 von Bern nach Köniz: Hier sollen künftig Doppelgelenktrolleybusse von HESS eingesetzt werden, da sie mehr Fahrgäste aufnehmen können.
Ein Doppelgelenktrolleybus von HESS auf der Linie 20. Ähnliche Busse sollen zukünftig auf der Linie 10 zwischen Bern und Köniz verkehren.
Neben dem Blick in die Zukunft lohnt sich auch ein Rückblick: Im November 2024 sorgten starke Schneefälle dafür, dass das gesamte Verkehrsnetz in Bern zum Erliegen kam. Es wurden sowohl die Verkehrsplanung als auch Bernmobil dazu befragt.
Seitens der Stadtplanung wurde erklärt, dass es aus finanziellen Gründen nicht möglich sei, stets auf solch extreme Wetterlagen vorbereitet zu sein, da sie selten vorkommen. Zudem blockierten sowohl der ÖV als auch der MIV die Strassen, wodurch Schneeräumarbeiten kaum noch durchführbar waren.
Bernmobil schilderte die Situation etwas anders: Zwar wären Schneeketten für einige Busse vorhanden gewesen, doch das Anbringen hätte so lange gedauert, dass der Schnee in vielen Fällen bereits wieder geschmolzen wäre. Hinzu kam, dass die Busse zunächst in die Werkstatt hätten gebracht werden müssen, doch sie steckten, wie alle anderen, im Stau fest.
Alles in allem war die Stadt für eine Extremwettersituation nicht vorbereitet, da solche Ereignisse in der Vergangenheit schon lange nicht mehr aufgetreten sind. Zudem lohnt es sich finanziell nicht, sich für die wenigen Tage im Jahr, in denen es besonders stark schneit, vorzubereiten. Die grösste Gefahr bei einem solchen Verkehrskollaps ist jedoch die Behinderung von Notfallfahrzeugen.
Sowohl die Verkehrsplanung als auch Bernmobil berichten jedoch, dass der Verkehr in der Stadt Bern weltweit führend ist. Komplettblockaden, bei denen sich alle Fahrzeuge gegenseitig blockieren und der Verkehr zum Stillstand kommt, sind äusserst selten. Das liegt an der guten Verkehrsplanung, die auch bei hohem Verkehrsaufkommen einen reibungslosen Fluss gewährleistet. Verspätungen und Staus wird es immer geben, da sie in einer Stadt unvermeidlich sind. Die Verkehrsplanung und Bernmobil arbeiten jedoch eng zusammen, um den ÖV und den Fahrradverkehr in der Stadt zu fördern und so für eine bessere Verkehrssituation zu sorgen.
Bisher haben sie bereits viel erreicht, und wir sind zuversichtlich, dass sich diese positive Entwicklung fortsetzen wird. Es ist entscheidend, dass der ÖV in der Schweiz erhalten bleibt, eine Reduktion, wie sie in Deutschland stattgefunden hat, wäre eine grosse Fehlentscheidung.
Um die Probleme zwischen ÖV und MIV vollständig zu lösen, müssten beide Verkehrsmittel komplett voneinander getrennt werden, was jedoch in naher Zukunft nicht realistisch ist. Was jedoch prioritär angegangen werden muss, ist die Förderung des ÖVs und des Fahrradverkehrs innerhalb von Bern. Um dies zu erreichen, müssen jedoch zunächst die Anwohner dazu bewegt werden, den MIV zu reduzieren und auf den ÖV umzusteigen. Hier kann die Stadt nur bedingt helfen, die Anwohner selbst müssen das ÖV-Netz für sich entdecken.
Deshalb fordern wir Sie auf: Testen Sie doch einmal den ÖV für einen Monat und lassen Sie das Auto in dieser Zeit einfach in der Garage. In dieser Zeit könnten Sie auch noch Sharing-Angebote wie Publi-Bikes für sich entdecken. Hauptsache mal ohne Auto. Vertrauen Sie uns, Sie werden erstaunt sein, was der ÖV alles zu bieten hat!